Als leistungsorientierter Sportler ist es mein täglicher Anspruch, mein Bestes zu geben und mich kontinuierlich zu verbessern. Die Optimierung der Leistung, der mentalen Fähigkeiten und des Materials gehört zu meinem Alltag. Jedes Puzzleteil wird analysiert, verfeinert oder wenn nötig ausgetauscht, bis sich am Ende hoffentlich ein perfektes Gesamtbild ergibt. Gewiss ist diese Optimierung und das Streben nach Perfektion ein wichtiger Erfolgsfaktor. Dennoch muss ich auch anerkennen, dass ich der Perfektion zwar möglichst nahe kommen kann, sie jedoch eine unerreichbare Illusion ist. Ständig werde ich Bereiche finden, die weiter optimiert werden könnten und so das Gesamtbild komplettieren.
Ein besonders aufregender Moment für mich als Sportler ist, wenn wir uns an der Startlinie befinden und uns dem Schicksal des Unkontrollierbaren ein Stück weit hingeben müssen. In diesem Moment muss ich mich den Gegebenheiten und dem Verhalten der Konkurrenz anpassen, flexibel reagieren und auf das Unerwartete vorbereitet sein. Eine wichtige Aufgabe von mir als Sportler besteht darin, mir verschiedene Strategien und Optionen zurechtzulegen, um auf eine Situation zu antworten. Gleichzeitig muss ich lernen zu akzeptieren, dass es nicht immer so läuft, wie ich mir das vorstelle. Fehler annehmen, Materialdefekte hinnehmen und Niederlagen einstecken.
Wir alle werden gezwungen, mit Unvorhergesehenem des Lebens umzugehen. Durch diese Erkenntnis habe ich gelernt, gewisse Dinge loszulassen und mich in Gelassenheit zu üben, auch wenn das bedeutet, etwas ganz sein zu lassen.
Wir Menschen streben oft danach, uns Dinge verfügbar zu machen und perfekt zu sein. Wir möchten die Ereignisse auf dieser Erde unter unsere Kontrolle bringen und optimieren, sie beherrschen und lenken — auch uns selbst. Getrieben von einem Verlangen nach Optimierung, Perfektion und Fortschritt, motiviert durch ein Bedürfnis nach Erfolg, Sicherheit, Komfort und die Angst, nicht zu genügen.
Im Zeitalter der sozialen Medien vermarktet sich der Mensch zunehmend und sammelt Bewertungen in Form von Likes. Dazu inszenieren wir uns und zeigen uns und unsere Welt meist von unserer besten Seite. Dies führt dazu, dass wir etwaige Makel oder Mängel ablehnen, verstecken oder «reparieren» wollen. Darüber hinaus suggeriert uns die Werbung ständig, dass es uns an etwas fehlt und wir dieses oder jenes Produkt oder eine bestimmte Dienstleistung benötigen, um entsprechende Defizite zu beheben. Selbst im Umgang mit Lebensmitteln zeigt sich diese Ablehnung, wenn vermeintlich nicht perfektes Gemüse oder Obst weggeworfen oder als «2. Klasse» deklariert wird. Welche Schlüsse ziehen wir daraus über die Denkweise von Menschen, die sich als «nicht perfekt» empfinden — oder eben von Menschen mit Behinderungen?
Nicht ständig Mängel und Makel beheben zu wollen, kann eine Freiheit bedeuten, ist aber offenkundig einfacher geschrieben als getan, in einer krampfhaft nach Optimierung strebenden Gesellschaft mit dem zwanghaften Eifer nach fehlerlosem Glück und perfekten Idealen. Es braucht oft Mut, Gelassenheit und ein gesundes Selbstwertgefühl, um zu sich und seinen vermeintlichen Makeln zu stehen.
Dabei ist der Mensch ein Wesen voller Mängel. Dies beginnt bereits bei der Geburt. Kein anderes Säugetier kommt so «unfertig» zur Welt wie der Mensch. Hunde, Delfine oder Affen können sich schon kurz nach der Geburt bewegen und orientieren, während wir Menschen uns erst kriechend fortbewegen und nur langsam laufen lernen.
Vollkommenheit und absolute Perfektion gibt es nach meinem Verständnis nicht; weder beim Menschen noch grundsätzlich in der Natur. Dies ist aber nicht zu verwechseln mit Vollendung. Alles verändert sich und ist dynamisch. Die einzige Konstante in unserem Leben ist die Veränderung. Dinge entstehen und vergehen, pulsieren, entwickeln und wandeln sich. Wir werden geboren und sterben. Vollkommenheit hingegen würde etwas Statisches voraussetzen. Wir würden gut daran tun, in dieser sich immer schneller wandelnden Welt lieber vermehrt auf Improvisation statt auf Perfektion zu setzen. Die Welt um uns herum ist vollkommen unvollkommen. Darum brauchen wir nicht perfekt zu sein. Perfektion ist manchmal langweilig. Gerade das Unvollkommene macht einen Menschen in der Regel liebenswert und einzigartig. Fehler und vermeintliche Makel gehören dazu, wir sollten sie nicht vertuschen. Wer das erkennt, lebt gelassener.
Heilung von Querschnittlähmung
Natürlich ist es erstrebens- und unterstützenswert, die Forschung im Bereich der Querschnittlähmung voranzutreiben, um eines Tages eine Heilung zu ermöglichen oder zumindest die Lebensqualität weiter zu steigern. Doch ist gleichzeitig Vorsicht geboten, um nicht von einer «Repariermentalität» befangen zu werden. So bedaure ich, dass an Fundraising-Aktionen zugunsten von Menschen mit Behinderung oder der Rückenmarksforschung manchmal (nicht immer!) bei mir der fade Beigeschmack hängen bleibt, dass eine Behinderung ein «fürchterliches» Schicksal bedeutet und geheilt werden MUSS. Dabei erhalte ich oft den Eindruck, dass vermeintlich «Gesunde» glauben, etwas besonders «Wohltätiges» für die «armen Behinderten» zu tun, wodurch eine zusätzliche Abhängigkeit entstehen kann. Es muss anerkannt werden, dass eine Behinderung kein Defizit, sondern einfach ein Merkmal sein kann und vielleicht nicht jeder «geheilt» werden will oder auch nicht kann. Der Fokus sollte nicht allein auf der Heilung einer Behinderung liegen, sondern die Umwelt einbeziehen und Themen wie Barrierefreiheit, Gleichstellung usw. umfassen. Insbesondere was eine angepasste Umwelt betrifft, würde die gesamte Gesellschaft profitieren. Wird etwa eine Treppe durch eine Rampe ersetzt, ist das auch praktischer für ältere Menschen mit Rollator oder Eltern mit Kinderwagen.
«Eine Behinderung ist weder ein zu lösendes Problem noch ein Defizit, sie ist lediglich ein Merkmal und Ausdruck menschlicher Vielfalt.»
Kintsugi – Der japanische Weg, die eigene Verletzlichkeit anzunehmen
Der Mensch ist ein verletzliches, sterbliches Wesen. Dass in dieser vermeintlichen Unvollkommenheit auch eine Schönheit und Anmut liegen kann, durfte ich in Japan entdecken, einem Land, das mich fasziniert und dessen Kultur ich schätze. Dort habe ich Kintsugi, die wunderbare alte Handwerkskunst, kennenlernen dürfen. Es ist der japanische Weg zu Resilienz und die Kunst, die Schönheit der Unvollkommenheit zu erkennen.
Kintsugi ist eine von langer Tradition geprägte japanische Methode, zerbrochene Keramik zu reparieren. In einem mehrstufigen und lang andauernden Prozess werden zerbrochene oder gesprungene Keramiken wieder hergerichtet. Dazu wird der japanische Urushi-Lack in mehreren Schichten aufgetragen und mit goldenen oder silbernen Pigmenten bestäubt und anschliessend poliert.
Kintsugi versucht nicht, die augenscheinlichen Makel der Reparatur zu verbergen, vielmehr stellt es diese durch die Pigmente im Lack in den Vordergrund – und erschafft so eine völlig neue Schönheit und Wertschätzung des ursprünglichen Objekts. Die Ästhetik, die hinter Kintsugi steckt, ist Wabi-Sabi. Sie bedeutet so viel wie: die Schönheit im Vergänglichen, Alten oder Fehlerhaften zu verstehen. Eine einst zerbrochene Teeschale ist nicht minder wert als eine makellose, neue Schale. Vielmehr erlangt die Schale durch die aufwendige Restauration eine einzigartige, kaum einschätzbare Wertigkeit. So wie wir die zerbrochene Tasse als so wertvoll betrachten, dass wir sie mit grossem Aufwand reparieren wollen, anstatt sie einfach wegzuwerfen, können wir uns auch entscheiden, uns liebevoll selbst zu umsorgen. Dass man sich nach Schicksalsschlägen wieder neu zusammensetzen kann und daraus nicht unbedingt schwächer hervorgehen muss, will dieses Kunsthandwerk vermitteln. Es ist ein langer Prozess, der dem alten Handwerk zugrunde liegt, und erfolgt in mehreren Schritten. Es erfordert Akzeptanz, Sorgfalt, Konzentration und Geduld — genauso wie in einem physischen und seelischen Heilungsprozess.
In einer Welt, die sich ständig verändert und in der nichts statisch ist, sollten wir uns darauf konzentrieren, uns selbst und unsere Unvollkommenheiten zu akzeptieren und zu schätzen. Das Streben nach Perfektion kann uns oft davon abhalten, das Leben in seiner vollen Schönheit und Einzigartigkeit zu geniessen. Indem wir unsere Unvollkommenheiten annehmen und würdigen, können wir ein erfüllteres und authentischeres Leben führen.
«Selig sind die, die einen Sprung in der Schüssel haben, denn sie lassen das Licht durchscheinen.» Michel Audiard