Jedem seine Rollen Teil 2
Reduktion
Die Reduktion eines Menschen auf ein äusseres Merkmal, eine Beeinträchtigung oder eine andere nicht der Norm entsprechende Eigenschaft ist etwas, was häufig in der Gesellschaft passiert. Das erfahren nicht nur Menschen mit Behinderung, sondern auch andere Mitmenschen durch Rassismus, Homophobie usw. Dass bei einer Person mit Gehbehinderung der Rollstuhl sofort ins Auge springt, Emotionen und Neugierde weckt, ist für mich nachvollziehbar. Trotzdem sollte versucht werden, den Menschen als Ganzes, als gleich- und vollwertiges Wesen zu sehen. Mit all seinen Fähigkeiten und Unfähigkeiten, seinen Stärken und Schwächen. Zeigen wir also primär als erstes Interesse am Menschen an sich und nicht an der Behinderung oder der Schicksalsgeschichte dahinter. Lernen wir einen Menschen erstmal etwas näher kennen. Ist die nötige Basis hergestellt, können die biografischen Umstände wie eine Behinderung selbstverständlich vertieft werden.
Wir sollten nicht nur vermeiden, Menschen auf ihr äusseres Erscheinungsbild zu reduzieren, sondern auch bedenken, dass einige Menschen nicht offensichtliche Behinderungen haben. Dies kann dazu führen, dass beispielsweise Rollstuhlparkplätze von Personen genutzt werden, deren Behinderung nicht offensichtlich ist. Einige Menschen besetzen diese Plätze möglicherweise, obwohl sie keinen Anspruch darauf haben. Dies ist ärgerlich. Beobachte ich, wie jemand ohne offensichtliche Behinderung das Auto verlässt, weise ich einfach freundlich daraufhin, die Behindertenparkkarte nicht zu vergessen, um ein Bussgeld zu vermeiden.
Nicht auf Augenhöhe
Die meisten Rollstuhlfahrerenden kennen diese Situation und nehmen sie bewusst oder unbewusst wahr. Und zwar bei Get togethers oder Stehlunches, welche im wahrsten Sinn des Wortes nicht auf Augenhöhe stattfinden, sondern „von oben herab“. Lange Zeit realisierte ich nicht, warum ich mich in diesen Situationen weniger wohl fühlte als bei Gesprächen auf gleicher Ebene. Abgesehen davon, dass Small-Talk aufgrund meiner eher introvertierten Art noch nie meine Stärke war und ich mit Berührungsängsten gross geworden bin, kommen eine grössere Distanz und schlechtere Akustik dazu. Daher schätze ich es sehr, wenn sich Gesprächspartner auf gleicher Höhe befinden. Es schafft für mich eine angenehmere Gesprächsatmosphäre, in der die Lautstärke angepasst werden kann und wir uns gleichwertig in die Augen schauen können. Dennoch würde ich mein Gegenüber niemals „in die Knie zwingen wollen“ und darum bitten, sich „zu erniedrigen“. Zum einen würde es für einige eine unbequeme Haltung erfordern und einen Kraftakt bedeuten, wieder aufzustehen, zum anderen meide ich Extrawünsche. Hilfreich kann es bereits sein, mich bei solchen Anlässen nicht mitten ins gesellschaftliche Gewusel zu mischen, sondern mich eher am Rande aufzuhalten.
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Die Tendenz, Menschen mit Behinderung zu überhöhen
Immer wieder mache ich die Erfahrung, dass bei Ansprachen oder auch anderen Gelegenheiten Menschen mit Behinderungen besonders gelobt oder heroisiert werden. Dies geschieht meines Erachtens aus der gut gemeinten Absicht, das vermeintlich negative, bemitleidenswerte Bild von Menschen mit Behinderung aufhellen zu wollen. Weil man es besonders gut machen will, wird das Bild jedoch nicht ins „normale“ Licht gerückt, sondern ins andere vermeintlich positive Extrem überhöht. Oft wird darauf hingewiesen, dass nichtbehinderte Menschen von Menschen mit Behinderung etwas lernen könnten. Es kann sein, dass sie etwas von ihnen lernen können, vielleicht aber auch nicht – das lässt sich pauschal nicht sagen. Alle Menschen können voneinander lernen; im positiven wie auch negativen Sinn.
Mitleid
Als Mensch mit Behinderung erfahre ich oft Mitleid. Mitleid wird, so glaube ich, oft falsch gedeutet und mit Empathie verwechselt. Mitleid ist eine persönliche Empfindung, bei der, wie das Wort es schon sagt, eine Person mit einer anderen vermeintlich leidenden Person mitleidet. Dieses „Mitleid“ wird oftmals von der vermeintlich „leidenden“ Person mit der Begründung zurückgewiesen, dass es nicht gewünscht und folglich darauf verzichtet wird. Tatsächlich hilft eine solche Empfindung niemandem. Weder dem vermeintlichen Opfer von Leid noch der Person, die mitleidet. Vor allem dann nicht, wenn die leidende Person gar nicht erst leidet. Mitleid ist jedoch nicht etwas, was man haben will oder nicht haben will. Ich musste lernen zu verstehen, dass ich dieses Mitleid nicht von mir weisen kann und ich es aushalten muss. Die Person, welche Mitleid empfindet, kann nichts dafür, dass etwas in ihr dieses Gefühl von Mitleid ausgelöst hat. Dieses Mitleid ist meist unfreiwillig. Ich muss es so annehmen und kann lediglich versuchen zu erklären, dass ich nicht leide und ein Mitleiden daher niemandem dienlich ist. Generell sollten wir zurückhaltend sein, wenn wir jemandem Leid zusprechen. Viel zu oft und viel zu schnell sagen wir, dass jemand an etwas leidet. „Er leidet an dieser Behinderung oder an jener Krankheit“. Doch wissen wir mit Bestimmtheit, dass diese Person tatsächlich leidet und ein Opfer seiner Umstände ist? Viele Menschen denken, es müsste so sein, weil es ihnen selbst wohl so gehen würde. Doch dabei handelt es sich lediglich um eine Annahme – und somit um eine Stigmatisierung.
Empathie ist hingegen nie etwas Verkehrtes. Diese sollte jedoch nicht nur gegenüber vermeintlich leidenden Menschen, sondern gegenüber allen Mitmenschen und der gesamten Umwelt entgegengebracht werden.
Almosen
Vor allem als Kind und Jugendlicher ist es vorgekommen, dass mir ohne ersichtlichen Grund ein Geldschein in die Hand gedrückt wurde. Diesen abzulehnen war jeweils nicht einfach, da die Spender:innen meist darauf bestanden, mir diesen Gefallen zu tun. Sie fühlten sich vor den Kopf gestossen oder traurig, wenn sie nicht helfen durften. Hierbei spielt vermutlich auch der sogenannte Warm-Glow-Effekt eine Rolle, bei dem der Akt des Gebens dem Spender ein gutes Gefühl vermitteln soll.
Inspiration
Die mediale und gesellschaftliche Darstellung und Rollenzuschreibung von Menschen mit Behinderungen (oder anderen ungewöhnlichen Lebensumständen), die einzig aufgrund ihrer Lebensumstände als inspirierend angesehen werden, wird heute als Inspirational Porn bezeichnet. Der Begriff ist eine Analogie zur Pornografie, da Menschen zum Nutzen anderer zu Objekten der Inspiration gemacht werden. Der Begriff wurde von der inzwischen verstorbenen australischen Behindertenrechtsaktivistin Stella Young geprägt und ist eine Form der Diskriminierung.
Menschen werden inspiriert, wenn sie sehen, wie andere Menschen Ausserordentliches leisten oder hohe Hürden überwinden. Daran gibt es grundsätzlich nichts auszusetzen. Schliesslich mögen wir es, uns von allen möglichen Dingen inspirieren zu lassen und vielleicht sogar selbst zu einer Quelle der Inspiration für andere zu werden. Eine Behinderung ist jedoch nichts, was man überwinden muss, und auch keine Sensation. Ein Mensch mit Behinderung, der seinem Alltag nachgeht, sollte dafür nicht beklatscht werden. Es entsteht dadurch die Botschaft, dass er von Natur aus unfähig ist, Dinge zu tun, die nicht behinderte Menschen tun. Es wird pauschal davon ausgegangen, dass das Leben mit einer Behinderung schwer ist und dadurch alles Gewöhnliche aussergewöhnlich wird. Wenn Menschen mit Behinderung dafür gelobt werden, gewöhnliche Dinge zu tun, zeigt das, dass die Gesellschaft geringere Erwartungen an sie hat.
Wenn ich also meine Einkäufe erledige oder andere alltägliche Arbeiten verrichte, erachte ich das als nicht besonders inspirierend, da dies für einen nicht behinderten Menschen keine aussergewöhnlichen Aktivitäten sind.
Inspiration kann so weit gehen, dass Vergleiche mit einer behinderten Person gezogen werden, um sich besser oder, in seltenen Fällen, gar hochwertiger zu fühlen. So höre ich nicht selten, dass sich mein Gegenüber im Vergleich zu mir ja über ihr Leben nicht beklagen sollte, wie gut es ihm doch gehe und er froh sein kann, noch dies oder jenes tun zu können. Hier kommt sehr stark das Gefühl des Mitleids dazu. Das Gegenüber glaubt, es gehe ihm besser als mir, der vermeintlich leidenden und hadernden Person. Ob dies an diesem Tag gerade zutrifft oder nicht, sei einmal dahingestellt.
Alltägliche Hürden
Hürden gestalten unseren Alltag schwieriger. Beispielsweise, wenn mir als Rollstuhlfahrer beim öffentlichen Verkehr der Transport aus Sicherheitsgründen verweigert wird, weil bereits andere Rollstuhlfahrende im Bus sind. Oder wenn ein Aufzug nur mit Hilfe von Angestellten bedient werden kann. Auch Rollstuhltoiletten sollten weder von Menschen beansprucht werden, die nicht darauf angewiesen sind, noch als Abstellkammer genutzt werden. Gerade was die Nutzung von Aufzügen oder Toiletten betrifft, erachte ich den sogenannten Euroschlüssel als gute Lösung.
Dies sind nur wenige Beispiele aus unserem Alltag als Menschen mit einer Behinderung. Sie könnten sicher noch ergänzt werden. Mir ist auch bewusst, dass mir durch meine sportliche Mobilität weniger Hürden begegnen als Menschen mit grösserer Beeinträchtigung. Auch möchte ich nebst diesen kritischen Bemerkungen betonen, dass ich zum allergrössten Teil sehr gute und schöne Erfahrungen im alltäglichen Leben mache. Dass mir Respekt entgegengebracht wird und ich ernst genommen werde. Zudem kann es im Umgang mit anderen nie allen recht gemacht werden und es können nicht restlos alle Bedürfnisse erfüllt werden. Empfindungen und Ansichten sind stets individuell. Entscheidend ist für mich, dass wir uns alle um gegenseitige Toleranz, Geduld und Nachsicht bemühen, uns vermehrt in andere hineinversetzen und mit gesundem Menschenverstand agieren.
Nicht zuletzt auch dank dem Sport habe ich Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein gewonnen, die mir helfen, meine Rolle in der Gesellschaft zu definieren und mich nicht zu sehr von den Erwartungen anderer beeinflussen zu lassen. Insgesamt ist mein Leben als Parasportler und Mensch eine Reise voller Herausforderungen, aber auch voller Freude und Erfüllung.