Jedem seine Rollen — Teil 1

Jedem seine Rollen Teil 1

Wir alle haben unse­re Rol­len in der Gesell­schaft, von denen wir glau­ben, dass sie zu erfül­len sind. Wir wer­den in Schub­la­den gesteckt, wo Rol­len­bil­der, Ste­reo­ty­pen und Vor­ur­tei­le ent­ste­hen. Die­se Rol­len wer­den uns zuge­schrie­ben, durch unse­re äus­se­ren Merk­ma­le, unse­re Fähig­kei­ten, Tätig­kei­ten, Gesin­nun­gen, Vor­lie­ben und vie­les mehr. Eini­ge sind offen­sicht­lich, man­che unter­schwel­lig sub­til. Eini­ge Rol­len suchen wir uns aus, ande­re nicht. In eini­gen füh­len wir uns wohl und kön­nen uns ent­fal­ten, in ande­ren könn­ten wir uns hin­ein­ge­drängt füh­len und spü­ren einen Druck der inne­ren und äus­se­ren Erwar­tungs­hal­tung. Eini­ge neh­men wir gar nicht bewusst wahr und ihre Erfül­lung scheint mühe­los, ande­re hin­ge­gen sind prä­sent und berei­ten uns Mühe. Rol­len prä­gen uns und unse­re Iden­ti­tät ver­schmelzt sich mit ihnen. Sie sind vor­über­ge­hend oder blei­ben ein Leben lang.

Wir alle ver­su­chen, uns in der kom­ple­xen Welt zurecht­zu­fin­den und zu ver­ste­hen, wel­che Rol­len wir dabei ein­neh­men und in wel­chem Kon­text sie sich in der Gesell­schaft befin­den. Wir machen uns Gedan­ken zu unse­rem Selbst- und Fremd­bild und wer­den durch deren Wech­sel­wir­kung beein­flusst. Doch egal, wel­che Rol­len wir ein­neh­men wol­len oder müs­sen, letzt­end­lich stre­ben wir danach, uns im Bemü­hen nach Lie­be und Aner­ken­nung durch beson­de­re Leis­tun­gen oder Eigen­schaf­ten, die wir uns erar­bei­tet oder zu eigen gemacht haben, aus­zu­zeich­nen und her­vor­zu­he­ben. Auch ich stre­be nach mei­ner eige­nen Defi­ni­ti­on des­sen, wer ich bin und in Zukunft sein möchte.

Roll­stuhl­fah­rer und Sportler

Auf mei­nem per­sön­li­chen Weg der Ent­wick­lung und dem Auf­bau mei­ner Iden­ti­tät hat der Sport bereits früh eine prä­gen­de Rol­le ein­ge­nom­men. Als ich mei­ne Lei­den­schaft für den Parasport ent­deck­te, öff­ne­ten sich für mich neue Hori­zon­te. Die Freu­de und Emo­tio­nen, die ich beim Trai­ning und bei Wett­kämp­fen erle­be, sind unbe­schreib­lich. Der Stolz, etwas zu errei­chen, die Moti­va­ti­on, mei­ne Gren­zen zu ver­schie­ben, und der Zuspruch ande­rer geben mir Kraft. Ehr­geiz, Dis­zi­plin und Leis­tungs­be­reit­schaft ent­wi­ckel­ten sich und ver­hal­fen mir, nebst vie­ler­lei Unter­stüt­zung, zu einem guten Start in eine gross­ar­ti­ge Sport­kar­rie­re. Auch wenn ich mich selbst als „nor­ma­len“ Jun­gen und Sport­ler betrach­tet habe, so war mei­ne Rol­le als Jun­ge mit Behin­de­rung den­noch eine Tat­sa­che. In die­sem Abschnitt möch­te ich mich vor allem die­ser Rol­le wid­men und einen ganz per­sön­li­chen Ein­blick geben.

Ich bin mit einem offe­nen Rücken (lat. Spi­na bifi­da) zur Welt gekom­men und bin damit auf­ge­wach­sen. Ich durf­te eine schö­ne Kind­heit auf dem Bau­ern­hof ver­brin­gen und hat­te stets ein unter­stüt­zen­des Umfeld. Ich hat­te nie Pro­ble­me damit, mei­ne Behin­de­rung zu akzep­tie­ren. Zum einen war da bestimmt eine kind­li­che, nai­ve Leich­tig­keit, die zu die­sem Selbst­ver­ständ­nis geführt hat. Aber mit zuneh­men­dem Alter setz­te auch ein schlei­chen­der unbe­wuss­ter Pro­zess ein. Mir wur­de all­mäh­lich klar, dass nicht nur mei­ne Behin­de­rung die allei­ni­ge Her­aus­for­de­rung sein wür­de, son­dern viel­mehr die Rol­le, die ich inne­ha­be. Stets habe ich betont, dass es ein Vor­teil ist, dass ich seit mei­ner Geburt eine Geh­be­hin­de­rung habe, damit auf­ge­wach­sen bin und somit nichts ande­res ken­ne – im Gegen­satz zu Men­schen, die im Ver­lau­fe ihres Lebens geh­be­hin­dert wur­den. Den­noch kann ich nicht bestrei­ten, dass dies auch Nach­tei­le mit sich bringt. Gera­de im Kin­des­al­ter, wo die Per­sön­lich­keits­ent­wick­lung eine gros­se Rol­le spielt, hat eine Behin­de­rung oder Anders­ar­tig­keit einen nicht zu unter­schät­zen­den Ein­fluss, ins­be­son­de­re im Unter­be­wusst­sein. Als Kind kön­nen wir vie­les noch nicht ein­ord­nen und dif­fe­ren­zie­ren, müs­sen aber mit vie­len unschö­nen, prä­gen­den Situa­tio­nen umge­hen, wie bei­spiels­wei­se aus­ge­schlos­sen zu wer­den oder einer Inkon­ti­nenz. Sol­che Umstän­de kön­nen sich auf den Selbst­wert und das Selbst­be­wusst­sein aus­wir­ken. Wenn ein Kind in sei­nem All­tag stän­dig und viel­leicht auch unter­schwel­lig dar­an erin­nert wird, dass es anders bzw. „schwä­cher“ ist als ande­re Kin­der und so einen Son­der­sta­tus besitzt, ist das prä­gend. Vie­les ist ihm durch die Umstän­de ver­wehrt oder kann nur durch zusätz­li­che Anstren­gun­gen ermög­licht wer­den. Die­se Prä­gung kann mass­geb­lich durch das Umfeld, ins­be­son­de­re die Eltern und Fami­lie, durch Erzie­hung und den Umgang posi­tiv beein­flusst wer­den. Dies kann für die Eltern eine gros­se Belas­tung dar­stel­len, ins­be­son­de­re wenn sie auch noch dar­auf ach­ten müs­sen, dass Geschwis­ter nicht zu sehr benach­tei­ligt wer­den. Eine Geburts­be­hin­de­rung geht manch­mal, aber nicht immer, auch mit einer kogni­ti­ven Beein­träch­ti­gung ein­her. Dabei ist es wich­tig, dass Gren­zen erkannt und respek­tiert wer­den, zugleich aber auch der Mensch sei­nen Stär­ken und Schwä­chen ent­spre­chend gefor­dert und geför­dert wird; kei­ne Über­be­hü­tung, son­dern För­de­rung der Eige­nermäch­ti­gung. Kin­der mit einer Behin­de­rung ver­brin­gen oft­mals auch viel Zeit in Gesund­heits­ein­rich­tun­gen und bewe­gen sich dadurch öfter in der Erwach­se­nen­welt als in einer kind­li­chen Welt mit Gleich­alt­ri­gen und ste­hen in einem ver­stärk­ten Abhän­gig­keits­ver­hält­nis. Mit die­sen Aus­füh­run­gen möch­te ich nicht wer­ten, son­dern ver­su­chen zu ver­ste­hen, in wel­che Rol­le ich hin­ein­ge­bo­ren wurde.

Zwi­schen Held und Opfer

Als Roll­stuhl­fah­rer lebe ich oft zwi­schen den zwei aus­ge­präg­ten Rol­len­bil­dern „Held“ und „Opfer“. Wäh­rend ich in gewis­sen Situa­tio­nen als Vor­bild gese­hen wer­de, der sein „Schick­sal“ bewun­derns­wert meis­tert, so kann ich in der glei­chen Situa­ti­on auch als bemit­lei­dens­wer­tes Geschöpf, mit des­sen Schick­sal nie­mand tau­schen möch­te, betrach­tet wer­den. Ich schät­ze im Sport sehr, dass ich haupt­säch­lich durch erar­bei­te­te Leis­tun­gen Aner­ken­nung erfahre.

Nicht ernst nehmen

Zur Rol­le eines Men­schen mit Behin­de­rung gehört lei­der auch das Ärger­nis dazu, von Mit­men­schen oft­mals nicht ganz ernst oder voll­wer­tig ange­nom­men zu wer­den. Zum Bei­spiel, wenn die Ant­wort auf eine unse­rer Fra­gen an eine Begleit­per­son gege­ben wird oder wenn über statt mit uns gespro­chen wird. Das pas­siert mir zum Glück nur noch sehr sel­ten. Gele­gent­lich herrscht auch die irr­tüm­li­che Annah­me, dass bei einer Kör­per­be­hin­de­rung auto­ma­tisch auch eine kogni­ti­ve Behin­de­rung vor­liegt. Eine Behin­de­rung wird oft mit Schwä­che und Hilfs­be­dürf­tig­keit gleich­ge­setzt, was mich gleich zum nächs­ten The­ma bringt.

Hil­fe­stel­lun­gen

Unan­ge­nehm wird es, wenn unge­fragt gehol­fen wird. Ich per­sön­lich mag es bei­spiels­wei­se nicht, wenn ich im Roll­stuhl unge­fragt gescho­ben wer­de oder ein „Nein, dan­ke“ nicht ange­nom­men und trotz­dem gescho­ben wird. Dies geschieht haupt­säch­lich an Flug­hä­fen im Aus­land. Dann, wenn ich mit einem äus­serst schwer­fäl­li­gen und über­gros­sen Flug­ha­fen-Roll­stuhl beim Gate abge­holt und zum Anschluss­flug oder zur Gepäcks­hal­le gebracht wer­de, wo mein eige­ner All­tags­roll­stuhl war­tet und mich von die­ser Demü­ti­gung erlöst.

Gene­rell ist das The­ma Hil­fe­stel­lung ein wich­ti­ges The­ma. Wobei ich durch­wegs gute Erfah­run­gen mache und es schät­ze, wenn die Mit­men­schen fra­gen, ob sie hel­fen kön­nen, egal ob eine Beein­träch­ti­gung vor­liegt oder nicht. Aber auch wenn mal eine Hil­fe­stel­lung als offen­sicht­lich erschei­nen mag, soll­ten wir ein „Nein, dan­ke“ respek­tie­ren. Ansons­ten erach­te ich es als mei­ne eige­ne Ver­ant­wor­tung, nach Hil­fe zu fra­gen. Dies fällt ver­ständ­li­cher­wei­se nicht allen leicht. Es kann Über­win­dung kos­ten und muss viel­leicht erst erlernt wer­den. Es ist oft nicht ein­fach, Hil­fe anzu­neh­men, ohne sei­nen Selbst­wert und sei­ne Wür­de in Fra­ge zu stel­len. Aber eine gewis­se Abhän­gig­keit von unse­ren Mit­men­schen ist das Los eines jeden Roll­stuhl­fah­ren­den, sogar eines jeden Men­schen. Die Kunst besteht dar­in, sich trotz die­ser Abhän­gig­kei­ten auf Augen­hö­he begeg­nen zu kön­nen und ein­an­der das Gefühl der Gleich­wer­tig­keit und Wert­schät­zung zu vermitteln.

Berüh­rungs­ängs­te

Was mir häu­fig begeg­net, sind Berüh­rungs­ängs­te. Es geht um Hem­mun­gen, Angst, jeman­den unge­wollt zu ver­let­zen, und viel­leicht sogar um die Angst, in ein Fett­näpf­chen zu tre­ten. Ich habe dies­be­züg­lich viel Ver­ständ­nis und neh­me nie­man­dem die­se Ängs­te übel. Wäre ich eine aus­sen­ste­hen­de Per­son, hät­te ich sie ver­mut­lich auch. Ich sehe nie­man­den dafür in der Ver­ant­wor­tung. Viel­mehr ist es die Art und Wei­se, wie über Men­schen mit Behin­de­rung in der Ver­gan­gen­heit gedacht wur­de. Dazu zäh­len Ste­reo­ty­pen und Klischees.

Um Berüh­rungs­ängs­te abzu­bau­en ist es wich­tig, die Gesell­schaft auf­zu­klä­ren und zu infor­mie­ren. Dabei kommt es ent­schei­dend auf die Kom­mu­ni­ka­ti­on an. Wenn wir Ver­ständ­nis und Tole­ranz zei­gen, errei­chen wir unser Ziel bes­ser, als wenn wir aus­schliess­lich in mora­li­scher Über­le­gen­heit ver­har­ren und vor­wurfs­voll dar­auf hin­wei­sen, was man tun, sagen oder las­sen sollte.

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