Grenzen sind ein fester Bestandteil unseres Lebens. Als Leistungssportler habe ich im Laufe meiner Karriere verschiedene Arten von Grenzen kennengelernt — sowohl mentale als auch physische. Im Sport, aber auch in meinem Leben allgemein lerne ich meine Grenzen kennen und taste mich an sie heran. Ich bin an Grenzen gestossen und lernte sie zu respektieren. Andere versuche ich zu verschieben oder zu überwinden. Und wiederum gibt es Grenzen, die noch nicht erreicht sind und darauf warten, neu definiert zu werden.
Grenzen, die ich im Sport erlebe, sind meist von Natur aus gegeben oder werden von mir, meinem Kopf und meinem Körper vorgegeben. Anders verhält es sich mit Grenzen, welche uns von der Gesellschaft von aussen auferlegt werden.
Inklusion und Exklusion
Der Mensch neigt dazu, alles einteilen und einordnen zu wollen, vor allem auch sich selbst. In Rassen, Geschlechter, Religionen, Parteien und unzähliges mehr. Dazu werden Grenzen gezogen. Überall, wo Grenzen gezogen werden, gibt es unweigerlich Ausgegrenzte, und es entstehen Mehr- und Minderheiten. Das kann zu grossen Konflikten und Vorurteilen führen. In einem gewissen Masse brauchen wir solche Kategorien und Einteilungen, um einzuordnen, Kontexte zu schaffen und um uns einfacher durch die Welt zu navigieren. Wir brauchen Grenzen für das Zusammenleben, Grenzen, die für alle gleichermassen gelten, jedoch nicht das Wesen selbst betreffen und abwertend sind. Die Frage ist, wo und in welchem Masse Grenzlinien gezogen werden und wie scharf sie sind. Und nicht zuletzt, wie wir mit diesen Abgrenzungen umgehen und sie bewerten.
Es ist verständlich, dass auch Menschen mit einer körperlichen Einschränkung als solche benannt und eingeordnet werden. Allerdings erscheint die Einordnung von aussen nicht immer eindeutig, und die Grenzen sind nicht immer klar erkennbar. Daher wird die Einordnung immer wieder in Frage gestellt. Was ist die Definition einer Behinderung überhaupt, wo beginnt sie und wo hört sie auf? Und sprechen wir von einer Behinderung in der Einzahl, also einem körperlichen Gebrechen (medizinisch) oder von Behinderungen in der Mehrzahl im Sinne von Hindernissen, welche von aussen (gesellschaftlich) einwirken und uns behindern?
Beim Thema Behinderung und Inklusion geht es im Verständnis vieler nicht um Einteilungen in Kategorien. Nicht um «uns» versus «jene». Inklusion ist vielmehr ein Spektrum, in dem wir uns irgendwann alle wiederfinden. Sei es bei einer vorübergehenden Verletzung, einer Krankheit oder spätestens im fortgeschrittenen Alter.
Betrachte ich Statistiken, die den Anteil der Bevölkerung beziffern, die von einer Behinderung, Krankheit oder Schwäche betroffen oder einem erhöhten Gesundheitsrisiko ausgesetzt sind, so liegt meine Vermutung nahe, dass wir alle früher oder später mit einem oder gar mehreren Gebrechen konfrontiert werden und eine «Behinderung» annehmen müssen, verursacht durch das Gebrechen selbst oder wie oben beschrieben durch Hürden.
Uns selbst nicht in Schubladen stecken
Gelegentlich beobachte ich, dass auch Menschen mit Behinderung sich selber in eine Schublade stecken. Sie begeben sich in eine Opferhaltung oder verleihen sich einen Heldenstatus. Wir sollten vermeiden, uns selber aufgrund eines Merkmals oder einer Behinderung anderen gegenüber zu erhöhen oder zu erniedrigen und uns somit abzugrenzen.
Aber auch Kampagnen mit löblichen Absichten von verschiedenen internationalen Organisationen, wie zum Beispiel «we the 15», können meiner Meinung nach missverständlich interpretiert werden und Menschen mit Behinderung separieren. Mit der Kampagne möchte man auf Rechte und Würde von den 15% der Weltbevölkerung aufmerksam machen, welche von einer Behinderung betroffen sein sollen. Das Logo der Kampagne ist ein Kuchendiagramm mit einem Ausschnitt, welches die 15% repräsentiert.
Meiner Meinung nach geht es dabei, wie im oberen Abschnitt beschrieben, zu sehr um «uns» vs. «die anderen». Wir sind Bestandteil der Bevölkerung wie andere Menschen mit ihren Merkmalen auch. Menschen mit Behinderung sollten kein separates Kuchenstück repräsentieren, sondern – bildlich gesprochen – eine gleichwertige Ingredienz der Teigmasse sein.
Eine Schwierigkeit bei der Betrachtung in Kategorien ist, dass wir auch an diesen gemessen werden. Es entsteht für die Betroffenen eine grössere Last, da ihnen die Individualität nicht zugestanden wird. Es entstehen Vorurteile, Bewertungen und Stereotypen. Wir werden, wie es umgangssprachlich heisst, «in den gleichen Topf geworfen». Begeht jemand in einer Gruppe einen Fehler, so wird die ganze Gruppe verurteilt. Es entstehen auch unbewusste Erwartungen, wie sich eine Person der vermeintlich eingeteilten Gruppe zu verhalten hat und welche Rolle sie einzunehmen ist. Dies wiederum erzeugt Druck und fördert den Drang, das Gegenteil zu beweisen. Man bemüht sich, nicht «negativ» aufzufallen und diesen Erwartungen der Andersartigkeit nicht zu entsprechen, sondern die Norm zu erfüllen. Ich brauche kein Psychologe zu sein, um zu vermuten, dass folglich ein Verhalten möglicherweise unterdrückt oder Merkmale versteckt werden. Diese Phänomene werden meines Wissens in der Fachsprache auch dem internalisierten Ableismus zugeordnet. Dabei verinnerlichen Menschen mit Behinderung mit der Zeit unbewusst die Vorurteile und Diskriminierungen, die sie erleben, oder stimmen ihnen sogar zu. Sie schämen sich für ihre Behinderung, zweifeln an sich oder zögern, sich als «behindert» zu identifizieren.
Von Inklusion bis Separation
Menschen werden von einer Gesellschaft ausgeschlossen.
Gründung separater Gruppen/Systemen ausserhalb einer Gesellschaft.
Eingliederung von Menschen in bestehende Systeme (z.B. Schulen) oder Gesellschaften. Es wird erwartet, dass sie sich an die Gegebenheiten anpassen.
Unbedingte Gleichberechtigung und Partizipation in einer Gesellschaft. Bei der Inklusion passen sich nicht nur die Menschen an ein herrschendes System an, sondern das System passt sich auch den Menschen an.
Inklusion als Zukunftsvision
Früher wurde eher auf Integration hingearbeitet, während heute die Vision der Inklusion häufiger die Richtung weist, in die sich die Gesellschaft entwickeln soll. Es geht über das Verständnis von Integration hinaus und umfasst alle Dimensionen von Heterogenität. Inklusion bedeutet das uneingeschränkte Recht eines jeden Individuums auf persönliche Entwicklung, soziale Teilhabe, Mitgestaltung und Mitentwicklung. Die Gleichwertigkeit und die gemeinsame Verschiedenheit der Menschen finden ihren Platz; die Vielfalt wird zur neuen Normalität. Das Recht auf Inklusion ist ein Menschenrecht und in der UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verankert. Alle oben genannten Begriffe sind weniger als Zustand als vielmehr Prozesse zu verstehen. Ein Prozess zur Annahme menschlicher Diversität. Inklusion beginnt im Kopf jedes einzelnen.
Wahre und nachhaltige Inklusion sollte auf eine natürliche Art und Weise geschehen und nicht «erzwungen», «inszeniert» oder gar «zelebriert» werden, damit die Andersartigkeit von Menschen mit Beeinträchtigung dadurch nicht noch stärker in den Fokus rückt und ausgeleuchtet wird. Gute Inklusion ist die, welche Gemeinsamkeiten, gemeinsame Ziele betont und die allumfängliche Gesellschaft in den Vordergrund rückt. Schliesslich verbindet uns Menschen mehr als uns voneinander trennt. Sie ist so natürlich und selbstverständlich, dass die Gesellschaft vielleicht sogar einmal das Wort «Inklusion» nicht mehr benötigt. Inklusion muss möglichst schnell gehen. Sie braucht andererseits aber auch Zeit und Geduld und muss sich sanft aber stetig in den Denkmustern der Gesellschaft etablieren, damit sie akzeptiert wird und nachhaltige Veränderung bewirken kann. Auf politischer Ebene muss meiner Meinung nach hingegen mehr Druck ausgeübt werden, damit die längst überfälligen Veränderungen gesetzlich verankert und umgesetzt werden können und ein Wandel vorangetrieben wird.
Wir sollten uns darum bemühen, die Sichtbarkeit und Teilhabe von Menschen mit Behinderung oder anderen Minderheiten in der Gesellschaft zu erhöhen. Je sichtbarer Menschen mit Behinderungen sind, umso mehr fügen sie sich ins Gesamtbild ein. Mehr Teilhabe im Alltagsleben, in der Arbeitswelt, aber auch in Bereichen wie beispielsweise Politik oder Medien. Jedoch keinesfalls aufgrund einer erzwungenen Quote, sondern je nach persönlichen Fähigkeiten durch erarbeitete Kompetenzen, genauso wie bei Menschen ohne Behinderung auch. Beispielsweise ist es erstrebenswert, wenn ein Mensch mit Behinderung oder anderer Diversität eine TV-Sendung moderiert, aber nicht primär aufgrund seiner Behinderung oder Diversität, sondern vielmehr dank seiner/ihrer erlernten beruflichen Kompetenzen und Fähigkeiten. Denn letztendlich ist es doch egal, ob eine Sprecherin oder ein Sprecher mit einer Prothese hinter dem Pult steht, als Rollstuhlfahrer:in auf einen Stuhl sitzt oder dort eine nicht behinderte Person moderiert, solange der Inhalt kompetent, interessant und verständlich vermittelt wird.